Wer wissen möchte, wo auf unbewohnten Inseln vergessene Kirchenruinen des frühen Christentums zu finden sind oder wo der Sage nach griechische Mönche einen Schatz vergraben haben, um ihn vor Piraten in Sicherheit zu bringen, dem sei der Reiseführer Cres, Lošinj und umliegende Eilande von Leticija Šuljić ans Herz gelegt. In dem kleinen Büchlein von 1973, Zeichnungen und Einbandgestaltung: Mate Solis, akad. Maler, erfährt der passionierte Kroatienreisende, auf welcher Insel es schon Strom und Wasser gibt und wo er noch aus Zisternen trinken muss. Nur auf wenigen Inseln gibt es demnach ein Post- und Telegrafenamt.
Das ist jetzt fast schon ein halbes Jahrhundert her und es ist kaum verwunderlich, dass es auf vielen Inseln nach wie vor kein Telegrafenamt gibt, wohl aber Breitbandinternet. Auf der Insel Cres machen wir zu unserer Freude aber eine ganz andere Entdeckung.
Auf der Suche nach einer Autovermietung springt uns an einem grauen, verregneten Herbsttag in der Altstadt von Cres eine leuchtend blaue Plane ins Auge, auf der mehrsprachig eine Kunstausstellung angepriesen wird. Darunter ist nicht weniger leuchtend zu lesen: Galerija Mate Solis. Wie bei Schatzsuchern kurz vor der Entdeckung geht auch bei uns der Puls schneller. Wir sind der ersten Spur des Reiseführers gefolgt und hatten nicht wirklich gehofft, das wieder zu entdecken, was uns das Büchlein beschreibt: Am Marktplatz, hinter dem kleinen Bootshafen, befindet sich die kleine Galerie SOLIS, eine ständige Ausstellung des jungen Creser Malers Mate Solis.
Farbenvielfalt im Altstadt vom Stadt CresAufgeregt betreten wir die Galerie. Über vierzig Jahre ist es her, dass der damals junge Maler für den deutschen Reiseführer die poetisch anmutenden Zeichnungen mit leichtem Stift, so typisch für die 1970er Jahre, anfertigte. Und tatsächlich – wir können es kaum fassen – ein mittlerweile betagter Mann mit langen weißen Haaren, wie es sich für einen echten Künstler gehört, sitzt an einem Schreibtisch und hantiert mit Bildern und Einladungskarten. Wir kommen näher, und stellen uns vor.
Mit tiefer Raucherstimme beginnt er zu lachen, als wir unseren Jahrzehnte alten Reiseführer aus der Tasche zaubern. Er erzählt uns, dass er in Deutschland und Italien gelebt hat, und dann wieder auf seine Insel zurückkehrte. Zu groß war die Sehnsucht nach der Heimat, nach Cres und Umgebung, nach der hier verborgenen Inspiration. Er war sogar einmal Bürgermeister in Cres. Für die Bilder zu dem Reiseführer hat er damals sein erstes richtiges Künstlerhonorar erhalten. Das Büchlein verkaufte sich gut, erinnert sich Mate. Für ihn bedeutete dieser Auftrag den Durchbruch als Künstler. Ich bilde mir ein, dass seine Augen etwas feucht werden, während er uns das Büchlein signiert.
Natürlich finden wir in Cres auch eine Autovermietung, die die nächste Überraschung für uns bereithält. Wir buchen einen zweitürigen Kleinwagen und bekommen einem alten VW-Käfer mit Ralleystreifen und Sportgurten. Mit der Erinnerung an Filmhelden der Kindheit wie Dudu und Herbie brausen wir am nächsten Tag über die Küstenstraße nach Beli.
Letzten ihrer Art in EuropaÜber die Gänsegeier von Beli sagt unser alter Reiseführer nichts, denn sie waren wohl immer schon hier und Teil dieser Landschaft. Die Herren der Lüfte, die sich fast 10.000 Kilometer in den Himmel hinauf schrauben, gehören jetzt leider zu den letzten ihrer Art in Europa. In einer Aufzuchtstation kümmert man sich um die majestätischen Tiere. Normalerweise gehen wir in keinen Zoo und mögen Tiere hinter Gittern nicht. Doch hier ist es anders. Hier ist es für einen guten Zweck, den wir durch eine kleine Spende unterstützen möchten. Pflegebedürftige, kranke und verletzte Tiere werden in der Station gepflegt, die die Tierschützer auf ihren Patrouillen in den Bergen finden. Sie werden aufgepäppelt und wieder ausgewildert. Wir erfahren, dass die Tierschützer auch den frei lebenden Geiern Fleisch – ganze Hammelhälften – auslegen, weil sie in der Natur immer weniger Nahrung finden.
Alte, verlassene SteinhäuserDraußen nimmt uns die herbstliche Waldlandschaft aus verkrüppelten Eichen und Esskastanien sofort wieder gefangen. Schnell ziehen wir unsere Wanderschuhe an und schultern das kleine Gepäck mit Proviant. Eine Rundwanderung führt uns über eine alte Römerstraße und durch verlassene Weiler. Es tut uns das Herz weh, diese alten Natursteinhäuser und Trockenmauern verfallen zu sehen. Die Jungen wollen hier nicht mehr wohnen, das können wir vielleicht noch nachvollziehen, doch warum erhält niemand diese traumhaften Orte? So geraten Jahrtausende alte Kulturlandschaften in Vergessenheit. Noch können wir sie entdecken, als Ruinen, als kleine Schätze am Wegesrand. Auf einer Lichtung bereiten wir unseres obligatorisches Picknick vor, ein Schatten fällt auf die Decke, wir heben die Köpfe und müssen die Luft anhalten: Über uns schrauben sich riesige Flügelpaare – zwei, drei, vier – hoch zur Sonne.
Mittelalterliche Ort Lubenice auf Insel CresApropos traumhafte Orte: Im Westen der Insel winden wir uns mit dem Rennkäfer eine endlose Serpentinenstraße hinauf zum Bergdorf Lubenice. Es liegt auf einem Kamm, einige Hundert Meter über dem Meer thronend. Den Gänsegeiern fühlen wir uns hier oben zumindest ein bisschen näher. Ungebremst weht die Bora und dringt noch unter die letzte Schicht der Funktionskleidung. Um uns herum alte Häuser, Gehöfte und Kapellen. Eine kleine Traumwelt aus Stein inmitten des Himmels umtost vom Wind – ein Adlerhorst würde man woanders sagen, hier jedoch ehemals das Reich der Riesengeier.
In Bucht von Lubenice befindet sich Kieselstrand - man sagt eine der schönste in KroatienWärme, Schutz und Nahrung gibt es in einer urigen Konoba mit Kaminfeuer. Wir reiben uns die Augen, ein wenig wegen des Rauchs, ein wenig wegen der Nostalgie, die uns überkommt. Sind wir noch im 21. Jh. oder haben wir eine Zeitgrenze auf der Wanderung übertreten? Wir bekommen einen festen Schafskäse, gebratene Leber mit Knoblauch und ein köstliches Lammragout mit Kartoffelgnocchi. Wir plaudern ein wenig mit den wenigen anderen Gästen, die bei diesem Wind den Weg hier hoch gefunden haben. Alles kommt uns absolut richtig vor, alles ist irgendwie heimlich vertraut. Wir haben das Gefühl, den anderen ergeht es genauso. Mit dem kräftigen Hauswein aus der Region, in schweren Tonkrügen serviert, wärmen wir unser Herz noch ein bisschen mehr und verpassen beinahe den dramatischen Sonnenuntergang über der windgepeitschten Adria. Wir stoßen noch einmal an auf unseren alten Reiseführer, der uns all das entdecken ließ.